mit freundlicher Genehmigung des Autors und Historikers

Werner Schollenberger

Im Ersten Weltkrieg wurde mit der „Deutschen Munitionsfabrik Max Walbinger“ der erste industrielle Großbetrieb gegründet. 2000 Beschäftigte, meist Frauen, produzierten rund um die Uhr Zünder für Sprenggranaten. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges verlegte sich Walbinger auf die Herstellung von Jagdmunition und Schreibmaschinen.

Dem neuen „Büromaschinenzweig“ war allerdings kein großer Erfolg beschieden, nur knapp 70 „Walbinger Senator“ Schreibmaschinen fanden einen Käufer.

Walbingers Fabrik wurde von der Firma Falcon, die in Sontheim bei Heilbronn begonnen hatte Autos zu bauen, übernommen.

Ab 1922 fertigte das Unternehmen in Ober-Ramstadt den Falcon CA 6. Dieser Kleinwagen konnte bei zahlreichen Rennveranstaltungen Erfolge erzielen. Bald hatten die Falcon-Wagen den Ruf, besonders zuverlässige Autos zu sein.

1924 stellte Falcon mit dem Typ T VI ein weiteres, größeres Modell vor. Allerdings machten Inflation und ausländische Konkurrenz der „Falcon Werke AG“ das Leben schwer und 1926 musste das Unternehmen – wie damals so viele deutsche Autohersteller – die Produktion für immer einstellen. Etwa 400 bis 600 Wagen dürften das Werk verlassen haben. Doch der kurze Einstand der der „Falcon Werke AG“ sollte erst der Beginn für die automobilgeschichtliche Vergangenheit Ober-Ramstadts sein:

Am 30. Oktober 1926 gründete der geniale Automobilkonstrukteur Hans Gustav Röhr die „Röhr Auto AG“. Dieses Unternehmen übernahm im selben Jahr die Falcon-Werksanlagen, die umfangreich modernisiert wurden.

Ab 1927 begann der Bau des Röhr 8, dem ersten deutschen Auto mit Einzelradaufhängung, Zahnstangenlenkung und Tiefbettkastenrahmen. Bei der Konstruktion des Wagens kamen Erfahrungen aus dem Flugzeugbau zur Anwendung: In Leichtbauweise gefertigt, wog er nur etwa 1.000 Kilogramm! Der Röhr 8 aus Ober-Ramstadt war ein Meilenstein der europäischen Automobilentwicklung. Sein Debüt hatte der, wegen seiner fortschrittlichen Bauweise, als „sicherster Wagen der Welt“ bezeichnete Röhr 8, 1928 auf der Autoausstellung in Berlin. In der Folgezeit wurden der Röhr-Wagen und damit sein Herstellungsort Ober-Ramstadt auf Automobilausstellungen in Paris, Amsterdam und Genf zu einem Begriff. Bis zu 6 Fahrzeuge baute die „Röhr Auto AG“ pro Arbeitstag, dann erfasste die Weltwirtschaftskrise das Unternehmen und der kleine Autohersteller musste Konkurs anmelden.

Allerdings konnte 1931 die Produktion mit neuen Geldgebern aus der Schweiz fortgeführt werden. Bis 1935 stellte die „Neue Röhr Werke AG“ noch die Modelle Typ F und Typ FK, sowie Junior vor, für deren Konstruktion sich so prominente Konstrukteure wie Ferdinand Porsche und Hans Ledwinka verantwortlich zeigten. Besonders der 1933 vorgestellte Junior

entwickelte sich mit über 1.800 gebauten Exemplaren zum „Brot und Butter Auto“ der Ober-Ramstädter Automobilfabrik. Dieser Wagen war eine Lizenzübernahme des Tatra Typ 75 und er zeichnete sich durch seine einfache, robuste Bauweise aus.

Bis 1935 stellte die „Neue Röhr Werke AG“ rund 4.000 Fahrzeuge der Typen Röhr 8 und Röhr Junior her, dann setzte die „Arisierung“ der Nationalsozialisten der von jüdischen Geldgebern getragenen Firma ein Ende.

Die Lizenz des Junior wurden von der „Stoewer-Werke AG“ in Stettin übernommen. Die Produktionseinrichtungen und noch vorhandenes Material kauften die Stettiner der „Neue Röhr Werke AG“ ab. So wurde der Röhr Junior zum Stoewer Greif Junior.

Die „Noll & Monnard KG“ übernahm die Materialbestände für den Röhr 8 und führte in den Räumen der ehemaligen Reparaturabteilung Wartungsarbeiten an Röhr 8 durch. Selbst 1939 konnten auf Wunsch sogar noch Röhr 8 Typ F montiert werden!

Schließlich übernahm 1937 die Firma „MIAG“ das Gelände. „MIAG“ fertigte hier Kräne, Gabelstapler und Transportkarren. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschlagnahmte die U. S. Army das Gelände. Der „MIAG“ blieben nur noch begrenzte Räumlichkeiten. 1953 gaben diese die Werksanlagen in Ober-Ramstadt endgültig auf und zogen sich ins Stammwerk nach Braunschweig zurück.

In Ober-Ramstadt wurden bis 1993, zuletzt unter Regie der „Mainz Industrie Panzerwerk“ (MIP), Reifen und Panzerketten für die NATO runderneuert. Das Werk galt als das größte seiner Art in Europa. Im September 1993 wurde das Werk geschlossen. In der Folgezeit verfielen die Werksanlagen.

Mit Gründung der SEG (Stadtentwicklungsgesellschaft) bestand die Hoffnung, dass für das Gelände eine Nutzung gefunden wird, die seiner geschichtlichen Bedeutung Rechnung tragen würde. Diese Hoffnung hat sich nicht erfüllt! Von den historischen Werksanlagen stehen heute (Juli 2013) nur noch die Villa (in Privathand), der Verwaltungsbau (SEG) und die Hundertmeterhalle (SEG).